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„Lass den doch kastrieren, dann wird er ruhiger“

 

Das Thema Kastration beim Hund wird fast genauso emotional und heftig diskutiert wie die Themen Ernährung und Erziehung. Daher möchte ich dieses heute auch einmal aufgreifen und zeigen, wo hier die Grenzen zwischen Wahrheit und Legende liegen.

Es ist unzweifelhaft, dass Hormone unser aller Verhalten maßgeblich beeinflussen. Jeder hat das bereits an sich selbst und anderen erlebt, und selbstverständlich hängt auch das Verhalten anderer Säugetiere in hohem Maße mit dem Einfluss von Hormonen zusammen.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass eine Kastration Verhalten verändern kann. Die früher viel gerühmten positiven Veränderungen, im Sinne von „nach der Kastration wird ein Hund grundsätzlich ruhiger“ sucht man allerdings oft vergeblich, denn – wie könnte es anders sein bei so hoch entwickelten Lebewesen – auch hier funktioniert der Hundekörper nicht wie eine Maschine, bei der man eine lockere Schraube festdreht, und alles läuft wieder. Die biochemischen Prozesse im Körper und die Verhaltensänderungen, die durch eine Kastration folgen können, sind weit komplizierter. Sie sind abhängig von Alter, Geschlecht, Charakter, individueller Entwicklung, seelischer Reife und vielem mehr.

Insbesondere während des Erwachsenwerdens, der sogenannten Pubertät, toben sich im Körper eines jungen Hundes die Hormone manchmal regelrecht aus. Es kommt zu Stimmungsschwankungen, peinlichem Herumprollen und größenwahnsinniger Selbstüberschätzung, die von Phasen extremer Unsicherheit gefolgt sein können. Na, erkennt ihr euch selbst als Teenager oder eure pubertierenden Kinder eventuell wieder? Ja, so waren wir alle, so sind Heranwachsende nun einmal, und auch unsere Hunde stellen hier keine Ausnahme dar.

Leider kommt bereits in diesem zarten Alter beim Anblick so eines pubertierenden und von Hormonschwankungen geplagten Junghundes aus allen Ecken der Rat: „Lass den doch kastrieren, dann wird er ruhiger und prollt nicht mehr die anderen Rüden an.“ Kommen die verunsicherten Hundebesitzer diesem Rat nach, hat das für den Hund oft fatale Folgen, denn wir müssen eines wissen: Die Sexualhormone, die durch eine Kastration reduziert werden, wirken sich nicht nur auf das Sexualverhalten aus, sondern sie beeinflussen auch andere Stoffwechselvorgänge und Organe. Sie sind für die Reifung des Gehirns ebenso wichtig wie für die Ausbildung einer vernünftigen Knochensubstanz. Insbesondere ein Hund im Wachstum braucht die Sexualhormone, um körperlich und geistig zu reifen.

Viele Eltern leiden enorm unter den emotionalen Ausbrüchen ihrer pubertierenden Kinder. Dennoch käme hier niemand auf die Idee zu sagen: „Lass den Lukas doch kastrieren, dann wird er viel ruhiger.“ Es ist völlig absurd zu denken, dass ausgerechnet diese Maßnahme dem Jungen helfen wird, in seinem Leben besser zurechtzukommen. Im Gegenteil, es würde für ihn alles noch viel schwieriger machen. Genauso ist es auch bei unseren Hunden. Früh kastrierte Rüden leiden oft unter sozialer Unsicherheit, weil ihre emotionale und geistige Reife verzögert wurde und sie aufgrund ihres Kastratengeruchs von anderen Hunden nicht für voll genommen werden.

Jetzt kommt wieder der Mensch und sagt: „Ist doch prima. Mir ist es lieber, mein Hund ist ein ewiges Mobbingopfer, als dass er derjenige ist, der die anderen Hunde ständig provoziert.“

Ja, aus menschlicher Sicht mag das ganz prima sein. Den Hund fragt mal wieder keiner.

Bei Hündinnen wirkt sich die Kastration oft kaum auf das Verhalten aus, was daran liegt, dass die Hündin durch ihren Läufigkeitszyklus immer wieder auch Phasen geringer hormoneller Aktivität durchlebt. Eine kastrierte Hündin verhält sich meist in etwa so wie sie sich vorher in der Mitte zwischen zwei Läufigkeiten verhalten hat.

Manche Hündinnen haben etwas zu viel Testosteron abbekommen. Das kann z.B. passieren, wenn die Hündin im Mutterleib zwischen zwei Brüdern lag. Diese Hündinnen heben oft das Bein wie Rüden und pöbeln sowohl Rüden als auch Hündinnen gerne an. Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel. Hier sollte man sich gut überlegen, ob man diese Hündin kastrieren lassen und dadurch die weiblichen Hormone, die sie hat, noch stärker dämpfen will. Der Schuss könnte nach hinten losgehen.

Es gibt allgemein betrachtet keine besonderen positiven Auswirkungen, die die Kastration einer Hündin auf deren Verhalten hat, es sei denn, sie zeigt sich während der Phase der stärkeren hormonellen Aktivität, also rund um die Läufigkeit herum, auffallend aggressiv oder unruhig. Hier kann die Kastration helfen. Unumgänglich ist die Kastration natürlich auch, wenn eine Gebärmutterentzündung vorliegt, und auch bei häufig wiederkehrenden Scheinträchtigkeiten und zyklusbedingten Depressionen ist sie eine Überlegung wert. Liegen solche Gründe aber nicht vor, rate ich eher davon ab, denn es ist einfach eine sehr unangenehme und schmerzhafte Operation, die ich meinem Hund nicht grundlos zumuten würde.

Zurück zum Rüden. Nicht nur bei früh kastrierten Rüden können sich Unsicherheiten entwickeln. Viele Rüden brauchen Testosteron, um Selbstbewusstsein und Souveränität zu erlangen. Bitte macht nicht den Fehler, den die Uralt-Hundetrainer machen, wenn sie sagen: „Ich will keinen selbstbewussten Rüden, der ist dann bloß dominant und aggressiv.“ Das ist Quatsch. Ein selbstbewusster Hund hat es gar nicht nötig, aggressiv zu sein. Und dass Dominanz keine Charaktereigenschaft ist, habe ich auch schon sehr oft beschrieben.

Die Ursache von Aggressionen unter Hunden ist im Gegenteil in den allermeisten Fällen soziale oder situative Unsicherheit. Und genau das ist die häufigste Nebenwirkung einer Kastration beim Rüden. Selbst erwachsene Rüden entwickeln oft nach einer Kastration Unsicherheiten und fangen auf einmal an, andere Hunde anzupöbeln.

Wann aber macht die Kastration eines Rüden Sinn? Von medizinischen Gründen abgesehen kann die Kastration einem Rüden helfen, der in einer Gegend mit sehr vielen Hündinnen lebt, die alle Nase lang läufig werden. Denn es kommt durchaus vor, dass der ständige Geruch läufiger Hündinnen, an die der Rüde nicht herankommt, für ihn starken Stress bedeutet. Dauerhafter Stress wiederum macht krank. Hier kann eine Kastration hilfreich sein, um dem Hund wieder mehr Lebensqualität zu geben. Das ist aber eine individuelle Entscheidung, denn es gibt durchaus Rüden, die ganz genau wissen, wann eine Hündin wirklich paarungsbereit ist, und die dann auch nur in diesen drei, vier Tagen überhaupt Interesse an der Hündin zeigen. Die haben dementsprechend auch weniger Stress. Und man sollte mit so einer Diagnose unbedingt warten, bis der Rüde erwachsen ist, denn der Testosteronüberschuss eines Junghundes kann sich auch von selbst wieder einpendeln.

Wenn ein unkastrierter Rüde und eine unkastrierte Hündin zusammenleben, bietet es sich an, einen von beiden kastrieren zu lassen, um ungewolltem Nachwuchs vorzubeugen. Die Tierheime sind schließlich schon voll genug.

Das war es nun aber auch schon mit den Gründen. Markierverhalten, Territorialverhalten, gelegentliches Konkurrenzverhalten gegenüber anderen Rüden, der Hass auf einen bestimmten Erzfeind oder auch die lästigen Läufigkeiten der Hündin, oder vielleicht sogar nur „weil das in unserer Familie schon immer gemacht wurde“ oder „weil mein Tierarzt das empfohlen hat, ich weiß auch nicht, wieso“ – all die Gründe, die manche Menschen dazu bewegen, ihre Hunde kastrieren zu lassen, sind in meinen Augen sehr bedenklich.

Es ist Normalverhalten eines Hundes zu markieren, gegenüber anderen Rüden ein bisschen herumzuprollen und um eine Hündin zu streiten, sein Territorium zu verteidigen oder auch mal seine schlechte Laune rauszulassen. So machen das Männer halt, und Frauen manchmal auch; deswegen lassen wir sie doch nicht alle kastrieren, wo kämen wir denn da hin?

Und wenn wir zu faul sind, unsere Hündin zweimal im Jahr ein paar Wochen lang an der Leine zu führen und zu beaufsichtigen, dann sind wir vielleicht auch insgesamt nicht besonders gut als Hundehalter geeignet. Ein Hund bedeutet nun einmal nicht nur Freude, sondern auch Arbeit und Verantwortung. Das gehört dazu, und das kann man nicht wegoperieren lassen.

Ich bin ganz und gar kein absoluter Kastrationsgegner. Es gibt gute Gründe für eine Kastration. Es gibt aber auch gute Gründe, die dagegen sprechen, und man sollte sich diesen Eingriff immer gut überlegen. Denn mit der Kastration wird dem Hund nicht nur ein Organ genommen, sondern es werden hormonelle Vorgänge verändert, die sein Verhalten beeinflussen und seine Identität und sein Wesen ändern können. Und das leider nicht immer zu seinem Vorteil.

(Inga Jung, Februar 2015)