Seit Anfang November hat sich die Lage beruhigt. Marty hat Toni inzwischen in den unterschiedlichsten Situationen beobachtet und festgestellt, dass der manchmal aus sehr merkwürdigen und für Martys Verständnis einfach nicht nachvollziehbaren Gründen bellt. Und dass Herrchen in dem Moment wohl doch gar keine Bedrohung darstellt.
Außerdem haben wir natürlich mit gutem Management und vielen kleinen Käsewürfeln aktiv dazu beigetragen, dass sich Martys Gefühlslage angesichts Tonis Gebell wieder beruhigt hat. Mein Mann kann sich jetzt wieder frei im Haus bewegen und muss nicht mehr befürchten, dass Marty plötzlich knurrend auf ihn zugestürzt kommt. Marty geht ihm wieder respektvoll aus dem Weg, so wie er es schon vor Tonis Einzug gemacht hat, aber wirkliche Angst hat er vor Herrchen nicht mehr. Somit ist der Hausfrieden zunächst wieder hergestellt.
Wenn Toni, der ein absolutes Papa-Kind ist, spielerisch von meinem Mann durchgeknuddelt wird, steht Marty dabei und guckt skeptisch zu. Was er davon halten soll, weiß er ganz offensichtlich noch nicht. Aber Toni macht es eindeutig Spaß, also scheint es wohl ungefährlich zu sein.
Marty hat eine detaillierte Beobachtungsgabe und kommuniziert selbst sehr fein. Toni dagegen ist kommunikativ eher ein Grobmotoriker. Marty setzt seinen gesamten Körper ein, um seine Gefühle auszudrücken. Toni stellt sich einfach hin und bellt, wenn er irgendwas will. Das macht er mit Menschen und mit Hunden so. Dieses Verhalten kommt nicht überall gut an und erzeugt zwischen den beiden (und auch zwischen Toni und manchen Hunden, denen wir draußen begegnen) noch das eine oder andere Missverständnis. Toni stört das nicht, er ist da ganz gelassen. Marty verunsichert es manchmal aber doch sehr.
Zum Beispiel haben die beiden ein paar Mal versucht, miteinander zu spielen. Aber wenn Toni hinter Marty herrennt, bellt er dabei immer. Typisch Terrier. Marty deutet das allerdings nicht als Bestandteil des Spiels, sondern bekommt fürchterliche Angst und verfällt in seine altbekannte Schockstarre. Toni steht dann vor ihm und bellt weiter, damit Marty wieder losrennt. Was Marty allerdings erst so richtig in Panik versetzt. Diese Situationen muss ich immer auflösen, indem ich ein paar Leckerlis streue und die Hunde auf andere Gedanken bringe, denn Marty ist in seiner Panik nicht in der Lage, das selbst zu lösen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass er in dem rumänischen Tierheim, in dem er aufgewachsen ist, oft von anderen Hunden gemobbt wurde, und dass ihn solche Situationen daran erinnern.
Ich hoffe sehr, dass im Laufe der Zeit das Vertrauen zwischen den beiden so sehr wächst, dass Marty auch diese Situation ruhig und ohne Angst betrachten und für sich auflösen kann. Denn an sich ist er sehr schlau und kann Situationen unheimlich gut analysieren. Aber seine Ängste blockieren ihn so sehr, dass er nicht mehr handlungsfähig ist, wenn die Unsicherheit mal wieder die Oberhand gewinnt.
Es ist auf jeden Fall spannend zu sehen, wie sowohl Marty, als auch Toni sich entwickeln und jeden Tag lernen – voneinander, von mir und aus den täglichen Alltagssituationen. Und abgesehen von diesen kleinen Bell-Missverständnissen, die auch schon seltener werden, kommen Toni und Marty ganz wunderbar miteinander aus und ergänzen sich optimal.
Toni darf inzwischen auf ausgewählten Strecken, die ich gut überblicken kann, schon frei laufen, und er macht das ganz wunderbar. Von sich aus schaut er sich immer wieder zu mir um, und auch der Rückruf klappt sehr gut. Natürlich wird er dafür auch immer fürstlich belohnt und gelobt.
Bei Marty kommen leider auch auf dem Spaziergang immer mal wieder durch verschiedene Auslöser so starke Unsicherheiten hoch, dass ich auf die Leine noch nicht verzichten kann. Denn wenn er erst einmal weggelaufen ist, kann ihn niemand (außer mir vielleicht) wieder einfangen. Er würde nie im Leben auf die Idee kommen, zu Menschen zu laufen und sich Hilfe zu suchen, so wie Toni das ganz sicher machen würde. Menschen sind für Marty immer noch das Gruseligste überhaupt.
Also gehen wir auf Nummer sicher. Und auch an der langen Leine genießt Marty unsere Spaziergänge sehr. Da gibt es immer etwas Neues zu entdecken, und man kann stehen bleiben und schnüffeln und dann ganz plötzlich losrennen und ein paar Meter sprinten und Haken schlagen … Es ist wunderbar, wie er draußen aufblüht und die Welt jeden Tag aufs Neue erkundet.
Und er hat ja noch sein ganzes Leben vor sich. Marty hat Ende November seinen zweiten Geburtstag gefeiert und hat noch so viel Zeit, um nach und nach seine Ängste abzubauen. Ich bin auf jeden Fall sehr froh, dass es mit meinem Mann jetzt wieder entspannter ist. Wer weiß, vielleicht ist Marty irgendwann, in einigen Monaten, auch bereit, sich von ihm streicheln zu lassen. Das wird ganz allein Martys Entscheidung sein. Lassen wir es einfach auf uns zukommen.
(Inga Jung, Dezember 2021)