Von wahren Helden

 

Gerade jetzt zur Zeit der Fußball-EM wird mir mal wieder bewusst, wie unterschiedlich doch die Definition des Wortes „Held“ oder „Vorbild“ für uns Menschen ist. Mir würde es niemals in den Sinn kommen, einen Fußballer als Helden zu feiern, im Gegenteil. Ich finde es ziemlich affig, dass erwachsene Menschen schwitzend über eine Wiese rennen, alle Nase lang über ihre eigenen Füße stolpern und dann auch noch jammern und schreien wie Kleinkinder und dem Schiedsrichter das alte Lied des „er hat aber angefangen“ erzählen. Als ob sie nicht schon im Kindergarten die Erfahrung gemacht hätten, dass das nicht zieht. Aber gut. Wenn man so was mag, ist es bestimmt eine tolle Sache, auch wenn ich es wohl nie verstehen werde.

Für mich sind die wahren Helden nicht die Berühmtheiten aus Radio und Fernsehen, sondern die ganz normalen Menschen, die im Alltag Ungerechtigkeiten erkennen und zu beseitigen versuchen. Die Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt laufen und nicht schweigend wegsehen, wenn sie wahrnehmen, dass etwas falsch läuft, sondern den Mund aufmachen. Die sich trauen unbequem zu sein und nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Die aufklären und andere ermuntern, ebenfalls etwas zu tun, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Zum Beispiel sah jemand, den ich gut kenne, im letzten Sommer vor einer Bäckerei einen stark hechelnden großen Hund in der Sonne sitzen, während dessen menschlicher Begleiter schön im Schatten saß und in aller Ruhe ein Stück Kuchen verdrückte. Statt einfach wegzusehen oder sich still zu ärgern ging mein ganz persönlicher Held schnurstracks in die Bäckerei und machte dort eine Riesenszene, wie es denn sein könne, dass der Hund dort in der Sonne sitzen muss und noch niemand wenigstens auf die Idee gekommen ist, ihm eine Schüssel mit Wasser hinzustellen. Man schaute ihn zwar an, als sei er verrückt geworden, aber der Hund bekam sein Wasser, das er auch gierig trank. Und seit diesem Tag stand immer eine Schüssel mit Wasser vor dem Eingang der Bäckerei. Neulich habe ich mit einem Lächeln wahrgenommen, dass jetzt sogar zwei richtige Hundenäpfe angeschafft wurden, die stets mit Wasser gefüllt sind. Die alte Plastikschüssel hat ausgedient. Das mag eine Kleinigkeit sein, aber für diesen Hund war es in dem Moment eine unheimliche Erleichterung. Und das Wichtigste ist, dass sich die Wahrnehmung der Menschen verändert hat und ihnen die Bedürfnisse eines zuvor unbeachteten Tieres bewusst wurden.

Es ist auch nicht immer einfach, in einer Gruppe von Menschen, die sich alle einig sind, einen gegensätzlichen Standpunkt offen zu äußern und zu vertreten. Wenn sich beispielsweise alle Arbeitskollegen darüber unterhalten, wie toll es ist, dass Wurst und Fleisch in einem bestimmten Discounter superbillig angeboten werden, dann gehört schon Mut dazu, in die begeisterte Diskussion die Frage einzuwerfen, ob sie sich denn auch im Klaren darüber seien, was sie da kaufen. Wie qualvoll das Leben der Tiere gewesen sein muss, wenn ihre Haltung so wenig Geld gekostet hat, dass ihre toten Überreste nun zu solchen Preisen verkauft werden können. Die Menschen, die billiges Fleisch wollen, mögen es in der Regel gar nicht, wenn man ihnen vor Augen hält, dass sie durch den Kauf dieser Produkte die Mitverantwortung für unfassbares Leid tragen. Sie wollen das nicht hören. Wer die Auseinandersetzung trotzdem nicht scheut und sich auf die Diskussion einlässt, der ist in meinen Augen ein echter Held.

Als Held ist man nicht immer beliebt. Man darf keine Angst davor haben, dass Menschen unfreundlich reagieren könnten. Werden sie aggressiv, muss man sich beherrschen und sachlich bleiben. Die Menschen hören auf nachzudenken, wenn ihre Emotionen hochkochen. Leute zu verärgern ist daher nicht zielführend. Man muss die nötige Ruhe haben, um eine Diskussion auf freundliche Weise führen zu können. Sogar wenn man jemanden davon abzubringen versucht, seinen Hund zu misshandeln und man das unbändige Bedürfnis hat, diesem Menschen das Gleiche anzutun, was er gerade mit seinem Hund gemacht hat, darf man sich nicht dazu hinreißen lassen. Aggression erzeugt nur Gegenaggression, und das führt niemals zu einer Besserung.

Tja, niemand hat je behauptet, es wäre einfach, ein Held zu sein.

Meine Helden sind Helden des Alltags. Menschen, die sich etwas trauen. Die nicht wegsehen, wenn Lebewesen, die nicht für sich selbst sprechen können, ein Leid geschieht. Die sich für Schwächere einsetzen. Meine Helden sind friedlich und genau deshalb sind sie besonders mutig. Sehr viel mutiger als jemand, der sich mit Gewalt durchzusetzen versucht. Draufhauen kann jeder, das erfordert weder Mut noch Hirn. Wer aber die Augen der Menschen öffnen und Mitgefühl mit anderen hervorrufen möchte, der braucht sowohl Mut als auch die richtigen Worte, oder, um es kurz zu sagen, den Stoff, aus dem Helden sind.

(Inga Jung, Juni 2016)

 

Hundemenschen

 

Es gibt Menschen, die Hunde mögen, sie vielleicht zeitweise in ihr Leben integrieren und durchaus auch gut behandeln, die aber auch jahrelang ohne einen Hund leben können, ohne etwas zu vermissen.

Und es gibt Hundemenschen.

Hundemenschen fühlen sich von dem Tag an, an dem sie zum ersten Mal ihre Augen öffneten und einen Hund erblickten, auf geradezu magische Weise zu Hunden hingezogen. Befinden sie sich in einer Menschenmenge und sehen nur einen einzigen Hund dazwischen, dann bleiben sie unwillkürlich mit ihrem Blick an ihm hängen, und allein seine Anwesenheit zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es ist, als hätten sie in der Menge einen Freund entdeckt.

Sitzen sie bei der Arbeit oder in der Schule, dann fühlen sie sich, als wären sie nur halb da. Kommen sie danach endlich wieder nach Hause und werden von ihrem Hund begrüßt, als wären sie eine Woche lang fort gewesen, dann fühlen sie sich endlich wieder vollständig. Dann ist alles wieder gut. Dann ist wieder zusammen, was zusammen gehört.

Hundemenschen können noch so schlecht gelaunt sein – wenn sie Kontakt zu einem Hund aufnehmen, geht ihr Herz auf und alle Sorgen sind vergessen. Sie gehören einfach zu Hunden, so wie Hunde zu ihnen gehören. Sie haben gar keine Wahl, sie sind nicht wirklich glücklich, wenn sie keine Hunde um sich haben. Es würde immer ein wichtiger Teil von ihnen fehlen.

Ein Hund spürt es sofort, wenn er einen Hundemenschen vor sich hat. Auch Hunde fühlen sich oft magisch zu Hundemenschen hingezogen. Es ist ein gegenseitiges Verstehen da, ein Wissen, das keine Worte braucht, ein unsichtbares Band zwischen ihnen, das niemand außer ihnen selbst sehen kann.

Ich wusste schon als kleines Kind, dass ich ein Hundemensch bin. Natürlich. Das weiß man einfach. Meine Eltern sind leider keine Hundemenschen, und so musste ich lange Jahre bitten und betteln und Überzeugungsarbeit leisten, bis sie einsahen, dass sie gar keine Wahl hatten, da ich einen Hund an meiner Seite brauchte.

Dabei war es doch von Anfang an unübersehbar. Wenn ich zeichnete, dann war auf so gut wie jedem Bild ein Hund zu sehen, egal, welches Thema in Kindergarten und Schule vorgegeben wurde. Oft habe ich gespielt, ich wäre ein Hund. Die Knie meiner Hosen waren dementsprechend schnell durchgescheuert, weil ich ständig auf dem Boden herumkrabbelte. Auch die meisten meiner Kindheitserinnerungen, die haften geblieben sind, hatten etwas mit Hunden zu tun. Zum Beispiel der Urlaub in dem Hotel in Italien, das einen Cocker Spaniel namens Winnetou hatte. Ich weiß nicht mehr viel von diesem Urlaub, aber an den Hund erinnere ich mich in allen Einzelheiten, erinnere mich, wie sein Fell sich anfühlte und wie glücklich ich war, wenn ich ihn kraulte.

Und ich hatte diesen Traum, in dem ich selbst ein Hund war und über eine grüne Wiese rannte. Es fühlte sich großartig an, so zu rennen, völlig euphorisch und frei. Dabei habe ich keine Ahnung, woher dieser Traum gekommen sein könnte, denn ich selbst war schon immer völlig unsportlich und bekam sofort Seitenstiche, wenn ich mal ein paar Meter rennen sollte. Ein eigenes Erlebnis kann das eigentlich nicht gewesen sein. Dieser Traum hat mich stark beeindruckt und ich erinnere mich noch genau daran, obwohl das jetzt fast 30 Jahre her ist.

Mir begegnen hin und wieder auch andere Kinder, bei denen ich mir sicher bin, dass sie Hundemenschen sind. Manchmal wissen ihre Eltern das schon, manchmal auch nicht. Es kam mehrfach vor, dass ich mit meinem Hund durch die Stadt ging und ein kleines Kind beim Anblick meines Hundes auf einmal glänzende Augen und diesen bestimmten, sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck bekam, vor Verzückung zu atmen vergaß und die Hände nach meinem Hund ausstreckte. Ich kenne dieses Gefühl, das hier zum Ausdruck kam, nur zu gut. Mir war sofort klar, dass ich einem Hundemenschen begegnet war. Manchmal sieht man es sogar bei Erwachsenen, dieses Strahlen in den Augen beim Anblick eines Hundes.

Es würde mich nicht wundern, wenn Forscher eines Tages ein bestimmtes Hundemenschen-Gen entdecken würden. Unter den verschiedenen Theorien zum Verlauf der Domestikation des Hundes gibt es auch eine, in der Wissenschaftler davon ausgehen, dass sich nicht nur der gemeinsame Vorfahr unserer heutigen Wölfe und Hunde im Zuge des Jahrzehntausende andauernden Domestikationsprozesses zum Hund entwickelt hat, sondern dass sich gleichzeitig auch die Menschen veränderten und neue Eigenschaften annahmen, welche sie dem Hund näher brachten. Ich finde diese Theorie faszinierend und auch sinnvoll, denn beispielsweise unsere Familienstruktur gleicht viel mehr der von Wölfen und Hunden, als der von anderen Primaten. Die damaligen Menschen waren sicherlich noch nicht so arrogant wie wir es heute sind und hielten sich noch nicht für die Krone der Schöpfung, sondern sie respektierten andere Tiere und waren bereit, sich Gutes und Nützliches von ihnen abzuschauen. Dies könnte durchaus eine Veränderung bewirkt haben, die uns ganz speziell den Hunden nahe brachte.

Das ist natürlich nur eine von vielen Theorien, für die es wenige Nachweise gibt, und vielleicht wird es nie wirklich aufgeklärt, was damals geschehen ist. Spannend finde ich die Diskussion aber allemal, denn wirklich rational erklären lässt sich diese starke Verbindung zwischen Hundemenschen und Hunden nicht, wenn man nicht die Geschichte der Menschheit, die seit mindestens 15.000, vermutlich sogar 30.000 Jahren eng mit der Geschichte der Hunde verknüpft ist, mit einbezieht.

Ich vertraue Hunden. Ich vertraue auf dieses unsichtbare Band zwischen uns, das schon mein gesamtes Leben lang existiert. Ich bin ein Hundemensch.

 

(Inga Jung, Juni 2016)