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Muss man wirklich alles trainieren?

Ich weiß es: Mein Hund hat ein paar Baustellen. Insbesondere was andere Hunde angeht. Er mag sie einfach nicht, bis auf wenige Ausnahmen. Und das sagt er laut und deutlich. Wir haben uns im Laufe der Jahre daran gewöhnt und weichen, wenn immer es machbar ist, etwas aus, damit das Gezeter so kurz und schmerzlos wie möglich ausfällt. Wenn wir uns nicht in unserem Stammrevier befinden, haben wir auch manchmal Glück und es gibt gar kein Gezeter. Verlassen sollte man sich aber nicht darauf, das ist tagesabhängig.

Immer noch begegne ich Leuten, die dann meinen, mir kluge Tipps geben zu müssen. Klar, sie kennen Luzis Vorgeschichte nicht und wissen nicht, dass wir in den Anfangsjahren noch mit ganz anderen Dämonen zu kämpfen hatten und dass das, was davon jetzt noch übrig ist, im Grunde nur noch ein fader Nachgeschmack und nicht mehr der Rede wert ist. Aber es gibt sie ja immer, die Leute mit den perfekt geborenen Hunden, die meinen, sie müssten allen anderen Ratschläge geben, weil sie angeblich den Schlüssel zum engelsgleichen Hund hätten.

Am lustigsten war noch der Typ, der angesichts unseres Verschwindens ins Unterholz allen Ernstes raunte: „Niemals der Konfrontation ausweichen!!“ Das ist schon Jahre her und ich lache immer noch beim Gedanken an diesen nicht nur sinnlosen, sondern völlig absurden Tipp. Denn wenn ich meinen sozial unsicheren, impulsiven, schnell gestressten Hund, der 99 von 100 Hunden abgrundtief hasst, einfach in jede Konfrontation hineinlaufen lasse, dann habe ich nichts anderes als eine Beißerei nach der anderen und einen Hund, der sich bald völlig hysterisch in seine Ängste und Aggressionen hineinsteigert. Das hilft mir null. Aber danke vielmals für den tollen Ratschlag, ich habe herzlich gelacht.

Die Leute, die wissen, wer ich bin, sagen dann oft: „Aber du bist doch Hundetrainerin. Wenn dein Hund keine anderen Hunde mag, dann musst du das doch trainieren.“ – Ganz ehrlich: Muss ich das?

Ja, ich weiß, wie man an so einem Problem arbeitet. Ich weiß, wie das geht. Und in den ersten fünf Jahren mit Luzi habe ich es auch noch nach Kräften getan. Aber meine Kleine hat eine so abgrundtief pessimistische Grundeinstellung, dass ein einziger aufdringlicher Hund schlagartig die Erfolge von 100 gut verlaufenen Hundebegegnungen wieder kaputtmacht. Sofort sagt sie: „Siehst du, ich hab doch gewusst, dass fremde Hunde ätzend und gefährlich sind“ und geht ohne Umschweife wieder zu ihrem altbekannten Verhalten über.

Nachdem sich diese Rückschläge mehrfach wiederholt hatten, begann ich, das Problem von einer anderen Seite zu betrachten: Ich wohne in einer Gegend, in der ich vielleicht zweimal in der Woche auf dem Spaziergang einem anderen Hund begegne. Wenn mein Hund diesem Hund dann deutlich macht, dass er ihn doof findet, dann ist das für mich kein Problem, in das ich viel Zeit und Arbeit investiere. Das ist dann einfach so. Und ja, manchmal nervt es mich auch. Aber kurz darauf habe ich es dann auch schon wieder vergessen.

Es ist nicht so, dass mein Hund niemals Sozialkontakte hätte. Luzi hat einen guten Kumpel, der sie auch mag, und sie ist ein absoluter Groupie (man kann es einfach nicht anders bezeichnen) von zwei Rüden aus dem Dorf, die sie ab und zu trifft und die sie abgöttisch liebt. Aber die meisten anderen Hunde in ihrem Revier stehen auf ihrer Hass-Liste. Und das ist eine Angelegenheit, die Luzi sehr persönlich nimmt. Ich denke nicht, dass sie da viel mit sich diskutieren lässt, da ist sie ein absoluter Charakterhund. Selbst wenn ich ihr beibringen könnte, ohne Ausraster an diesen Hunden vorbeizugehen (was ich bei ihrem Temperament bezweifle), täte sie das nur zähneknirschend. Sie kennt halt ihre Pappenheimer. Und ich weiß nicht so recht, ob das ihr gegenüber fair wäre. Sie ist doch nur ehrlich, wenn sie ihre Abneigung in die Welt hinausbrüllt. Soll sie das doch meinetwegen machen, wenn es ihr gut tut.

Selbstverständlich würde ich sie niemals auf einen dieser Hunde zulaufen lassen, das sei hier nur klargestellt. Luzi ist bei Hundebegegnungen immer an der Leine, und wir weichen auch nach Möglichkeit aus. Kein Hund soll sich unnötig von ihr gestresst fühlen oder womöglich angegriffen werden. Sicherheit ist oberstes Gebot. Aber Luzi ist einfach ein Hund, der seine Emotionen lautstark äußert. Auch wenn sie sich freut, hört man das noch drei Häuser weiter. Leise war nie ihr Stil. Das ist ein Charakterzug, der sie ausmacht. Würde ich ihr das abtrainieren, dann würde ich sie verbiegen. Und ich bin mir sehr sicher, dass sie sich dann ein anderes Ventil für ihre überschießenden Emotionen suchen würde. Sie braucht das einfach.  

Luzi liebt es, am Gartenzaun zu liegen und die Straße zu beobachten. Leute ohne Hund lässt sie kommentarlos passieren. Autos, Fahrradfahrer, Reiter, Inlineskater – alles kein Problem. Aber wehe, ein Hund taucht auf, den sie in ihrem Revier nicht haben will. Dann geht natürlich das Gepöbel los.

Aber auch hier muss ich ganz ehrlich sagen: Sie versucht weder, über den Zaun zu springen, noch durch den Zaun hindurchzurennen. Sie pöbelt einfach nur. Und es muss auch keiner direkt neben dem Zaun laufen, die Hundebesitzer können mit reichlich Abstand auf der anderen Straßenseite vorbeigehen. Es besteht zu keinem Zeitpunkt irgendeine Gefahr und niemand muss sich direkt bedroht fühlen. Von daher: So what? Lasst sie doch pöbeln, wie sie lustig ist.

Früher hatte ich noch den Anspruch, das alles zu unterbinden, zu trainieren und zu optimieren. Inzwischen bin ich etwas anders davor. Es ist schlicht und einfach ganz normales Hundeverhalten. Und solange es niemanden gefährdet oder beeinträchtigt, ist es doch auch kein Problem. In der Stadt sähe das vermutlich anders aus, aber hier auf dem Land, wo vielleicht dreimal am Tag ein Hund an unserem Grundstück vorbeiläuft, ist es doch nun echt kein Drama. Ich denke, ein bisschen mehr Toleranz und Lockerheit täte vielen Hundebesitzern durchaus gut. Natürlich immer mit der Einschränkung, dass der eigene Hund mit seinem Verhalten niemanden belästigt, bedroht oder irgendwie dessen individuelle Freiheit einschränkt.

Sicher hätte ich manchmal gern meine liebe, süße Peppi zurück, die alle Menschen und alle Tiere liebte und immer nur Harmonie, Liebe, Spaß und Spiel gesucht hat. Sie war wirklich ein außergewöhnlicher Hund, so feinfühlig und freundlich zu allen, dass ich mich oft gefragt habe, wo sie diese Engelsgeduld hernimmt. Aber Luzi ist eben anders und ich bin der Ansicht, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch ihr zusteht. Und solange wir gut aufpassen, dass sie mit ihrer überschießenden Art niemandem wehtut, ist das doch okay. Man muss nicht alles trainieren. Leben und leben lassen.

Inga Jung (Juni 2020)

Buchtipp: „Leben will gelernt sein“

 

In diesem Artikel möchte ich das Buch „Leben will gelernt sein. So helfen Sie Ihrem Hund, Versäumtes wettzumachen“ von Wibke Hagemann und Birgit Laser vorstellen, erstmalig 2013 im Birgit Laser Verlag erschienen und inzwischen in der 3. Auflage erhältlich.

Leben will gelernt sein

In dem Buch geht es in erster Linie um Hunde, die mit dem Deprivationssyndrom zu kämpfen haben. Das Deprivationssyndrom ist keine Krankheit, sondern man kann es als Entwicklungsstörung des Gehirns und des Nervensystems beschreiben. Obwohl die Ursachen bekannt sind, trifft man leider in zunehmendem Maße auf Hunde, die davon betroffen sind.

Von einer Deprivation spricht man, wenn Hunde oder andere sozial lebende Tiere (das schließt auch den Menschen ein) in ihrer Jugendzeit zu wenige Erfahrungen mit Sozialpartnern und der Umwelt gemacht haben. Gerade bei Hunden, die während der Welpenzeit eine sensible Phase durchlaufen, während der die wichtigsten Nervenverknüpfungen im Gehirn gebildet werden, ist es enorm bedeutend, diese Zeit zu nutzen und den Welpen möglichst viele positive Erlebnisse mit verschiedenen Menschen, Tieren, Geräuschen und Orten zu bieten.

Hat ein Hund während dieser wichtigen Zeit zum Beispiel so einfache Dinge wie Gras, Bäume oder den blauen Himmel nicht kennen gelernt, dann kann es sein, dass er in seinem späteren Leben davor Angst hat. Noch schwieriger wird es, wenn er auch keine Menschen und anderen Hunde kennen gelernt hat, denn diese bewegen sich und machen Geräusche, nähern sich ihm und erschrecken ihn vielleicht sogar. Eine vorsichtige Annäherung und eine spätere Gewöhnung sind hier noch schwerer zu bewerkstelligen als bei einem unbewegten Objekt wie einem Baum.

Hunde, denen diese wichtigen Erfahrungen fehlen, kommen oft von Massenzüchtern, die nur aufs Geld aus sind. Vom Deprivationssyndrom betroffen sind auch alle ehemaligen Versuchstiere aus den Laboren der Pharmakonzerne. Und oft sind auch Welpen im Zwinger eines Tierheimes oder einer Tötungsstation im Ausland aufgewachsen, oder neuerdings sogar wieder in deutschen Zoohandlungen, und haben dort die wichtigste Zeit ihres Lebens hinter Gittern verbracht, ohne die Chance, die Welt zu entdecken.

Diesen Tieren fehlen wichtige Voraussetzungen, um sich an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Ihr Gehirn ist dafür nicht gut genug trainiert. Sie sind schnell überfordert, reagieren ängstlich oder aggressiv, manche werden hyperaktiv, andere ziehen sich zurück und verstecken sich. Die meisten von ihnen haben mit großen Ängsten zu kämpfen.

Das Buch „Leben will gelernt sein“ nimmt sich diesen Hunden an und gibt zahlreiche wertvolle Praxistipps. Angefangen bei ganz praktischen Dingen wie dem richtigen Geschirr und der bei Angsthunden oft notwendigen doppelten Sicherung für den Spaziergang, über Stressmanagement, der Bedeutung von Schlaf, Entspannungstraining und Tipps für den Alltag, werden auch viele eigene Erfahrungen der Autorinnen mit eingebracht. Sie gehen auf die Ursachen von Angst und Stress ein und darauf, wie man mit diesem Hintergrundwissen dagegen ansteuern kann. Das Clickertraining, das bei richtiger Anwendung einem Hund viel Selbstbewusstsein vermitteln kann, wird ausführlich besprochen und verschiedene Übungssituationen vorgestellt. Aber es wird auch nicht vergessen zu erwähnen, dass bei allem Training doch eines im Vordergrund stehen sollte: die Vermittlung von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen.

Ich finde das Buch ganz wunderbar und halte es auch für eine sehr gute Ergänzung meines eigenen Buches „Zappelhunde – Vom Leben mit überaktiven Hunden“ (Kynos Verlag 2014), da hier sehr viele Praxistipps vermittelt werden, während mein Buch den Fokus eher darauf legt, Verständnis für überaktive oder hyperaktive Hunde zu wecken und aufzuzeigen, dass unter anderem auch das Deprivationssyndrom solche Verhaltensweisen hervorrufen kann. Das bedeutet, ein Hund ist nicht nur das „Produkt“ seiner Menschen, sondern er bringt auch gewisse genetische und erfahrungsbedingte Voraussetzungen von sich aus mit, die nicht immer günstig sind und mit denen man manchmal nicht ganz so leicht zurechtkommt. Dennoch darf man sich nicht entmutigen lassen, denn man kann mit Liebe und Geduld sehr viel erreichen. Wie genau das in der Praxis funktioniert, beschreibt dieses Buch.

(Inga Jung, Februar 2016)