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Angst kann man sich nicht einfach abgewöhnen

Unser kleiner Marty hat sich zu einem lustigen jungen Hund entwickelt, der die meiste Zeit fröhlich und ausgeglichen ist. Er liebt Spaziergänge über alles, ist neugierig und offen, erkundet fremde Gegenstände und schnuppert gespannt den Wildspuren hinterher. Er legt für sein Leben gerne kurze Sprints ein, ist übermütig und lebensfroh.

Aber er hat immer noch große Angst vor fremden Menschen. Vor allem vor Männern. Vor Männern, die ein bestimmtes Aussehen haben. Vor fremden Menschen, die Interesse an ihm zeigen und ihn ansprechen. Und ganz besonders vor Besuchern hier in seinem sicheren Zuhause.

Unser Haus ist Martys Wohlfühlort, sein Rückzugsort. Hier kann er schlafen und sich entspannen. Hier kann er sich rekeln und sich den Bauch kraulen lassen. Wenn an diesen sicheren Ort plötzlich ein Besucher kommt, gerät Martys Welt ins Ungleichgewicht. Das Konzept „Besuch“ ist einem Hund wie Marty fremd. Er hat den Menschen schließlich nicht eingeladen, das waren wir. Wir haben einfach so beschlossen, dass der unser Haus betreten darf, und Marty kann nichts dagegen tun. Er ist dem völlig ausgeliefert.

Für einen Hund, der Angst vor Menschen hat, fühlt sich Besuch ähnlich an, wie es sich für uns anfühlt, wenn auf einmal ein Einbrecher mit gezogenem Messer im Raum steht. Der Hund fühlt sich bedroht, ausgeliefert, machtlos, in die Ecke gedrängt. Das Haus, das zuvor sein sicherer Rückzugsort war, wird auf einmal zur Falle, aus der es kein Entkommen gibt. Die Angst übernimmt die Kontrolle. Es ist kein Wunder, dass es in so einer Situation immer mal wieder zu Beißunfällen kommt.

Nun haben wir einen Kumpel, der uns seit einiger Zeit fast wöchentlich besucht. Wenn Marty nur seine Stimme hört, flippt er schon aus, weil er genau weiß, dass der bei uns ins Haus kommt. Und das ist für Marty der absolute Horror.

Um ihm den Stress möglichst zu nehmen, bleibt Marty während der Zeit, in der der Besuch bei uns ist, in meinem Arbeitszimmer. Dort hält er sich sehr gern auf. Er hat da sein Hundebett und einen Wassernapf, ein Kindergittter sorgt für Sicherheit, zusätzlich kann man natürlich auch die Tür schließen, und das Arbeitszimmer liegt in einer „Sackgasse“ unseres Flures, so dass dort niemand vorbeigeht. So kann Marty relativ ruhig und vor allem sicher abwarten, bis der Besuch wieder weg ist. Und wenn ich an dem Tag arbeiten muss, bin ich auch die ganze Zeit bei ihm. Das ist dann natürlich optimal für ihn.

Neulich machte unser Kumpel, dem es natürlich leidtut, dass Marty immer so einen Stress mit seinem Besuch hat, einen Vorschlag. Er fragte, ob Marty schon an einen Maulkorb gewöhnt sei. Denn dann könnte ich Marty doch einfach den Maulkorb aufsetzen und ihn im Haus laufen lassen. Er hatte nämlich, bevor wir das Kindergitter eingebaut hatten, schon die Erfahrung gemacht, dass Marty Scheinangriffe gegen ihn gestartet hatte, wenn er sich in der Nähe des Arbeitszimmers bewegte. Gebissen werden wollte er auf keinen Fall, aber mit dem Maulkorb war die Gefahr aus seiner Sicht gebannt und somit alles in Ordnung. Und er dachte, dann werde sich Marty schon an seine Anwesenheit gewöhnen und merken, dass ihm nichts getan wird.

Ich lachte, weil ich das für einen Witz hielt. Doch an seiner Reaktion merkte ich, dass er es durchaus ernst gemeint hatte, und das brachte mich zum Nachdenken, ob nicht ein Blog-Beitrag zu dem Thema angebracht wäre. Besagter Kumpel hat nämlich auch schon sein ganzes Leben lang Hunde und ist kein Neuling auf dem Gebiet. Dass er sich nicht vorstellen konnte, dass so ein Vorschlag im Grunde eine Anleitung zum Thema „Wie zerstöre ich möglichst schnell das Vertrauen meines Hundes“ ist, machte mich nachdenklich.

Warum bin ich dieser Meinung? Nun, ganz einfach. Die Zähne sind die einzige Waffe, die Marty gegen den Angstauslöser hat. Erinnern wir uns nur einmal an das Bild des Einbrechers, der mit gezogenem Messer vor uns steht. Haben wir selbst eine Waffe (und sei es nur die Bratpfanne), dann fühlen wir uns nicht ganz wehrlos. Wir haben vielleicht noch die Möglichkeit, den Eindringling mit viel Gebrüll aus dem Haus zu jagen. Sind hingegen unsere Hände gefesselt, dann ist das eine ganz andere Situation. Wir haben keine Möglichkeit mehr, dem Einbrecher irgendetwas entgegenzusetzen. Unsere Angst steigert sich ins Unermessliche.

Ich würde also, diesem Vorschlag folgend, Marty seine einzige Möglichkeit der Verteidigung nehmen. Das allein wäre vielleicht noch nicht dramatisch, wenn ich ihm trotzdem weiter beistehen würde. Aber das tue ich nicht. Ich setze ihn der bedrohlichen Situation aus und sage, so, jetzt sieh zu, wie du klarkommst. Arrangiere dich mit der Situation, eine andere Möglichkeit hast du nicht. Dein Rückzugsraum bietet dir keinen Schutz mehr, alle Türen im Haus sind offen, und der Besucher bewegt sich frei im Haus. Du kannst nichts dagegen tun, und weglaufen kannst du auch nicht. Und ich helfe dir nicht.

Was glaubt ihr wohl, was passieren wird? Wird Marty durch so eine Maßnahme seine Angst verlieren? Wird er merken, dass ihm nichts passiert, und sich an den Besucher gewöhnen?

Viel wahrscheinlicher ist doch, dass sich seine Angst ins Unermessliche steigert. Entweder wird er diesen Menschen, der ihm jetzt so bedrohlich erscheint, sein Leben lang als höchst gefährlich einstufen und bei der ersten Gelegenheit doch wieder angreifen. Oder er wird in die erlernte Hilflosigkeit fallen und sich seinem Schicksal ergeben, weil er weiß, dass es aus der Situation kein Entkommen gibt. Aber die Angst wird so oder so bleiben. Vor allem bei einem Hund, der so sensibel ist wie Marty und der ganz offensichtlich in seiner Jugendzeit traumatische Erlebnisse mit Männern hatte.

Aber soll Marty jetzt sein Leben lang im Arbeitszimmer bleiben, wenn Besuch da ist?  – Nein, das ist natürlich nicht gesagt.

Das Problem ist, dass die meisten Menschen einfach keine Geduld haben. Sie wollen Erfolge, und sie wollen sie schnell. Aber das Verändern von Gefühlen ist nun mal etwas, das nicht von heute auf morgen passiert. Das braucht Zeit und ein ganz langsames, schrittweises Vorgehen. Traumatisierte Menschen sind in der Regel viele Jahre lang in Therapie und brauchen sehr, sehr lang, bis sie sich den einschneidenden Erfahrungen in ihrer Vergangenheit überhaupt stellen können. Und ein traumatisierter Hund, der noch viel weniger zur Selbstreflexion fähig ist als ein Mensch, der soll das von heute auf morgen können? Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?

Ich treffe häufig auf dem Spaziergang Männer, die Marty niedlich finden und ihn zu sich locken wollen. Wenn ich dann sage, dass er nicht zu ihnen gehen wird, weil er Angst hat, scheint das unerklärlicherweise bei vielen einen plötzlichen Ehrgeiz zu wecken. Da kommen dann Sprüche wie: „Ha, das ist eine Sache von fünf Minuten. Ich bring dann mal Futter mit, und dann kommt der sofort.“ Ja, sicher. Träum weiter.

Was ist das für eine Profilierungssucht, die viele Männer haben? Gibt ihnen das einen Kick, wenn sie von sich behaupten, sie seien die Hundeflüsterer, die den ängstlichen Hosenschisser aus Rumänien bekehrt haben? Das sind wohlgemerkt wildfremde Leute, die ich vorher noch nie gesehen hatte und die auch gar nichts mit uns zu tun haben. Ich finde so ein Verhalten absolut anmaßend. Schließlich kennen sie weder mich noch Marty und wissen überhaupt nichts über uns.

Genausowenig wie diese besserwisserische Frau, die vor einem Jahr, als Marty noch Angst vor einer recht belebten Straßenecke im Nachbardorf hatte (die übrigens schon wenige Wochen später überhaupt kein Problem mehr darstellte), im Stechschritt auf uns zugestampft kam und mir in bestimmendem Tonfall erklärte, ich würde die Angst meines Hundes verstärken, wenn ich ihn streichele. Voller Überzeugung warf sie mir all diese alten, längst von der Wissenschaft widerlegten Kamellen an den Kopf und dachte offenbar ernsthaft, sie würde damit ein gutes Werk tun. Was sie dagegen tat, war, Marty durch ihr forsches Auftreten zu verunsichern, mich zu verärgern und uns das Training für diesen Tag komplett zu zerstören. Denn ich war nach der Begegnung so sauer, dass ich unmöglich noch weiter Ruhe und Sicherheit ausstrahlen konnte.

Warum ich das jetzt auch alles erwähne? Ich möchte mit diesem Blog-Beitrag darauf aufmerksam machen, wie leicht es ist, sich von Außenstehenden dazu überreden zu lassen, ganz gewaltige Fehler zu machen. Ich bin froh, dass ich meine Ausbildung habe, dass ich dank meines ganzen Vorwissens weiß, was ich tue. Dass ich weiß, was meinem Hund hilft und was ihm schadet. Dass ich weiß, wie ich ihn vor der Welt beschütze und wie ich sein Vertrauen in mich stärke.

Aber nicht jeder Mensch, der einen ängstlichen Hund an seiner Seite hat, hat diesen Erfahrungshintergrund und das theoretische Wissen. Dann lässt man sich schnell verunsichern und hört auf die Tipps von Menschen, die sich selbst darstellen, als seien sie die absoluten Profis und wüssten genau, wovon sie reden. Statt auf sein Bauchgefühl zu hören, denkt man dann über die vermeintlich stichhaltigen Argumente nach und tut Dinge, die man später bereut.

Ich kann immer nur an jeden appellieren sich zu überlegen, wie es einem selbst in der Situation gehen würde, in der der Hund gerade ist. Die Perspektive des Hundes einzunehmen (auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn die meisten Hunde sind viel näher am Boden als wir, und von dort sieht die Welt ganz anders aus). Stellt euch vor, ihr selbst hättet panische Angst vor dieser einen Sache, vor der euer Hund Angst hat. Was würde euch in der Situation helfen? Und was nicht? Was lässt die Angst weniger werden und was macht sie größer?

Empathie und Bauchgefühl sind so wichtig für unser Zusammenleben mit dem Hund. Wenn euch irgendwer zum Beispiel sagt, ihr sollt die Angst eures Hundes ignorieren, dann fragt euch: Wenn ich mein Hund wäre, würde mir das dann helfen? Oder würde ich mich dadurch eher alleingelassen fühlen?

Oft ist es ganz einfach, die richtigen Antworten zu finden, wenn man sich nur in die Gefühlswelt des Hundes hineinversetzt und überlegt, was ihm helfen würde, eine Situation positiver zu erleben. Denn so unterschiedlich ist das Gefühlsleben von Hund und Mensch gar nicht. Deswegen lieben wir einander schließlich so sehr.

Übrigens hat Marty neulich einen großen Fortschritt gemacht, davon möchte ich abschließend noch erzählen. Ich habe vor ein paar Tagen durch Zufall auf einem Waldparkplatz in unserer Nähe eine befreundete Hundetrainerin getroffen. Wir hatten unsere Hunde, bis auf Marty, schon in die Autos geladen, standen mit einigen Metern Abstand zueinander und unterhielten uns. Nach einer Weile schlenderte Marty wie zufällig vorsichtig im Bogen auf sie zu und schaute sie aufmerksam an. Da ich wusste, dass von dieser Person ganz bestimmt keine unbedachte Reaktion kommt, die Marty verunsichern würde, ließ ich ihn gewähren.

Zum Hintergrund müsst ihr wissen, dass ich von Anfang an hin und wieder mit Marty und einer Freundin mit ihrem Hund zusammen spazieren gegangen bin. Marty kennt es, dass besagte Freundin immer bessere Leckerlis hat als ich, und dass sie diese auch großzügig verteilt. Und offenbar hat er sich überlegt, dass diese neue Frau vielleicht auch gute Leckerlis hat. So hat er sich ein Herz gefasst und sich ihr ganz allein angenähert. Ohne dass ich mitging. Das war so großartig. Und da es sich um eine Hundetrainerin handelte, die mit positiver Verstärkung arbeitet, hatte er das unfassbare Glück, dass sie tatsächlich tolle Leckerlis in der Tasche hatte und Marty groß abstauben konnte. Wie wunderbar!

Nach diesem tollen Erfolgserlebnis mit einer für ihn wildfremden Frau kam Marty wieder glücklich auf mich zugehopst und wollte erst mal kuscheln. Ich war so stolz auf meinen Kleinen.

Ich denke, mit meiner Freundin kann ich nach einem gemeinsamen Spaziergang auch schon mit dem Besuchertraining anfangen. Wenn sie mit in unser Haus kommt, wird er sicher wenig Unsicherheit zeigen. Und darauf aufbauend könnten wir dann mit weiteren Frauen üben. Dumm nur, dass sich dafür immer jemand die Zeit nehmen und zu uns rausfahren muss. Mal sehen, wie oft sich solche Gelegenheiten bieten. Wenn wir das ab und an wiederholen, werden Frauen sicher bald kein Problem mehr sein. Bei Männern bin ich noch nicht so optimistisch. Aber wir haben ja noch viele gemeinsame Jahre Zeit. Nur Geduld, das wird schon.

Inga Jung (Juni 2022)