Unser kleiner Marty hat seit ein paar Monaten eine neue Strategie entdeckt: das aktive Vertreiben seiner Angstauslöser.
Und wer kennt das nicht, gerade jetzt, wo wieder ein Krieg in Europa tobt und wir uns alle Sorgen um die Zukunft machen: Das Schlimmste, was uns im Angesicht eines Angstauslösers passieren kann, ist Hilflosigkeit. Wir möchten etwas tun, wir möchten aktiv werden, wir möchten den Angstauslöser vertreiben, damit er weggeht und wir uns wieder sicher fühlen können.
Genau das tut Marty, wie so viele andere Hunde auch: Ein Auto kommt angefahren, es fährt am Gartenzaun vorbei, Marty stürzt bellend an den Zaun, und das Auto entfernt sich wieder. Marty hat es aktiv vertrieben und fühlt sich groß und stark. Ziel erreicht. Ein absolut selbstbelohnendes Verhalten.
Dabei ist es interessant zu sehen, wer angebellt wird. Es sind nur Autos und Transporter, aus denen (vom Typ her) schon mal Menschen ausgestiegen sind und bei uns geklingelt haben. Also Post- und Paketboten, Handwerker oder Besucher. Das gelbe Postauto ist dabei Martys ganz persönlicher Erzfeind, weil das wirklich jeden Tag auftaucht und bei ihm immer wieder die Angst auslöst, dass der böse Postbote womöglich ins Haus kommt. Auf dieses Auto geht er sogar wie ein Irrer los, wenn es uns auf dem Spaziergang begegnet, was er bei anderen Autos nicht tut. Fremde Menschen, die möglicherweise in sein sicheres Zuhause kommen könnten, sind Martys absoluter Alptraum.
Es werden keine Trecker und keine LKW angebellt. Menschen in Treckern und LKW sind ungefährlich, die haben uns noch nie besucht.
Es werden auch keine Spaziergänger mit Hund angebellt, es sei denn, die Menschen gehen sehr nahe an den Zaun, schauen Marty direkt an oder sprechen ihn an. Gegen Hunde hat er nichts. Selbst wenn die ihn anbellen, schaut er nur und bellt nicht zurück. Und er ist auch überhaupt nicht territorial veranlagt, es geht ihm nicht um den Schutz von Haus und Garten, es geht ihm nur um Selbstschutz.
Es sind die Menschen, die er auf Abstand halten möchte. Menschen findet er einfach gruselig. Männer noch mehr als Frauen.
Und ich kann es ihm nicht verdenken, er hat schließlich Recht. Das einzige Tier auf diesem Planeten, das absichtlich grausam ist, ist der Mensch. In Bezug auf dieses Verhalten hat unsere Spezies ein absolutes Monopol. Der aktuelle Krieg in Osteuropa bestätigt das gerade mal wieder auf besonders deutliche Weise. Also was soll ich Marty erzählen? Dass alle Menschen nett sind? Sind sie nicht. Seine Ängste sind nicht unbegründet.
Natürlich finde ich die Kläfferei nicht gut, zumal sich Marty dabei auch im Haus manchmal richtig in Stress kläfft, immer mehr auf Geräusche von draußen lauscht und aus dem Fenster schauend regelrecht nach auffälligen Bewegungen sucht. Vor allem wenn es ihm körperlich nicht so gut geht, er Bauchweh hat oder irgendwelche anderen Befindlichkeiten, reagiert er immer sensibler. Dann muss ich manchmal alle Fenster schließen, Rollos runterziehen und Hintergrundmusik anmachen, um ihn von den Reizen, die ihn gerade so überfordern, abzuschirmen. Erst dann kommt er wieder zur Ruhe.
Was hilft, ist Sonne. Wenn die Hunde hier den ganzen Vormittag entspannt in der Sonne gelegen haben, ist Martys Bedürfnis, sich über vorbeifahrende Autos aufzuregen, sehr gering. Er ist dann so ausgeglichen, dass es schon starker Reize wie Stimmen direkt vor der Tür oder das Klappern des Briefkastens bedarf, um ihn aus der Reserve zu locken.
Ich tue viel, damit die Hunde – vor allem Marty – ausreichend Schlaf und Entspannung bekommen. Das ist enorm wichtig für das innere Gleichgewicht. Außerdem haben für Marty zumindest bei schönem Wetter seine Spaziergänge mit viel Zeit zum Schnüffeln und Beobachten einen hohen Stellenwert. Bei Regenwetter haben beide Hunde oft den Spaziergang verweigert, daher war die Kläfferei im Februar, als es wochenlang nur regnete, auch besonders schlimm, während sie sich jetzt im März, nachdem nun schon seit drei Wochen fast durchgehend die Sonne scheint, stark reduziert hat. Solche Einflüsse darf man einfach nicht unterschätzen, das Allgemeinbefinden der betroffenen Hunde ist bei solchen Problemen essenziell.
Wie trainiere ich nun mit Marty und wie bringe ich ihm ein passendes Alternativverhalten bei?
Tja, das ist nicht so einfach, weil er überhaupt nicht über Futter oder Spiel zu motivieren ist. Selbst wenn er ganz entspannt ist und keine Angst hat, interessieren ihn Futter und Spielzeug wenig. Das Einzige, was bei ihm hilft, ist Körperkontakt, ruhiges Ausstreichen über den Rücken und Ansprache mit ruhiger Stimme. So kann ich ihn hier im Haus immer sehr schnell wieder erden. Und aus dem Garten kommt er auf Rückruf zuverlässig wieder zurück ins Haus, auch wenn er gerade am Bellen ist. Das sind momentan die einzigen Ansätze, die wirklich helfen. Ich muss nur schnell sein, denn je länger er bellt, desto mehr übt er natürlich dieses Verhalten als Strategie ein. Da muss ich noch an mir arbeiten, in solchen Momentan wirklich alles stehen und liegen zu lassen, egal was ich gerade mache.
Am besten wäre es natürlich, vorausschauend bei jedem potenziell aufregenden Geräusch zu Marty zu gehen und ihn zu streicheln, damit er gar nicht erst anfängt zu bellen. Aber das klappt im Alltag natürlich nur selten, weil ich die Auslöser meist nicht vorhersehen kann.
Sichere Rückzugsorte, an denen Marty sich wohl fühlt, haben wir mehrere im Haus, aber er ist noch zu unsicher, um wirklich darauf vertrauen zu können, dass ihm dort auf keinen Fall etwas passieren wird, falls fremde Menschen hier hereinkommen sollten.
Wenn tatsächlich mal jemand zu Besuch kommt, was aktuell schon allein wegen der Pandemie sehr selten passiert, dann hat Marty ein festes Zimmer mit seinem Hundebett und allem, was er braucht, zu dem Besucher keinen Zutritt haben. Und auch sonst setze ich im Alltag natürlich viel Management ein. Gehen wir zum Beispiel an fremden Menschen vorbei, gehe ich zwischen Marty und den Menschen, damit er so viel Abstand bekommt wie er braucht. Er wird auf keinen Fall zur Kontaktaufnahme gezwungen und darf für ihn unheimliche Situationen in Ruhe mit ausreichend Abstand beobachten.
Das alles kenne ich schon von meinen ersten Jahren mit Luzi, die anfangs auch große Probleme mit fremden Menschen hatte. Das ist nicht wirklich neu für mich. Nur hatte ich damals den Luxus, dass Luzi in diesen Situationen Futter annehmen konnte und ich dadurch schneller eine positive Verknüpfung herstellen und gleichzeitig gutes Verhalten belohnen konnte.
Mein Traum wäre, dass Marty vielleicht irgendwann auch im Angesicht fremder Menschen ein paar Käsewürfel (das einzige Leckerli, das er wirklich gern mag) annehmen kann und das dann auch als Belohnung empfindet. Das würde uns deutlich mehr Möglichkeiten im Training eröffnen. Aber das wird wohl noch eine ganze Weile dauern.
(Inga Jung, März 2022)