Hund zu sein ist in unserer Gesellschaft schwierig geworden. Die Erwartungen an unsere „modernen“ Hunde sind immens. Und wenn die Menschen dann auch noch veralteten Erziehungsratschlägen, wie z.B. den längst überholten Rangordnungsmodellen, folgen, dann verstehen unsere armen Hunde schnell die Welt nicht mehr. Es ist oft ein schmaler Grat zwischen geliebtem Haustier und gequälter Seele. Und die Menschen scheinen in vielen Fällen noch nicht einmal zu merken, was sie ihrem Hund antun.
Überprüfen wir doch mal ganz ehrlich und selbstkritisch unsere eigene Erwartungshaltung an unseren Hund. Wie wünschen wir uns unseren Hund? Wie soll er sein? Wie soll er sich verhalten? Wie viel Freiheit gestehen wir ihm zu?
Häufig höre ich dann Antworten wie: „Mein Hund darf sehr viel, aber das muss er schon können und hier muss er sich so verhalten und dort darf er natürlich nicht …“ Und schon hat man wieder eine ellenlange Liste von Einschränkungen, Ge- und Verboten und absoluten Tabus. Das ist leicht verständlich, denn es sind nicht nur unsere eigenen Erwartungen, sondern es lastet auch ein gesellschaftlicher Druck auf uns Hundehaltern. Da müssen wir uns anpassen. Und das ist ja auch richtig so.
Ich möchte nur davor warnen, hier einen ungesunden Perfektionismus zu entwickeln und dem Hund Dinge abzuverlangen, die er gar nicht leisten kann. Es geht nicht nur um uns. Wichtig ist nicht nur das, was wir uns von unserem Hund wünschen. Wir müssen uns auch fragen, was sich unser Hund von uns wünscht. Versetzen wir uns doch mal in seine Lage. Aus seiner Sicht ist unsere Welt unfassbar kompliziert und unverständlich. Er braucht unsere Anleitung und unseren Schutz, um zurechtzukommen.
Ich selbst war früher auch so ein Mensch. Als ich meinen ersten Hund hatte, da habe ich immer die Menschen bewundert, die mit ihrem unangeleinten Hund durch die Stadt liefen, denen der Hund problemlos frei durch das dichteste Menschengetümmel folgte und selbst an stark befahrenen Kreuzungen absolut verlässlich zu sein schien. Und ich sage bewusst „zu sein schien“, denn inzwischen habe ich tragischerweise genug solche Hunde gesehen, die unter einem Auto gelandet sind, weil die absolute Verlässlichkeit einfach ein Trugschluss ist. Es braucht nur einen kleinen Reiz wie ein Eichhörnchen auf der anderen Straßenseite oder eine Handbewegung des Menschen, die der Hund falsch als Signal zum Loslaufen gedeutet hat, und schon ist das Unglück passiert. Womit wir wieder bei Menschen wären, die von ihrem Hund einfach zu viel verlangen. Und auch wieder bei meinem eigenen Beispiel.
Damals habe ich mir immer gesagt, beim nächsten Hund wird alles anders. Und als ich dann endlich meinen nächsten eigenen Hund bekam, da wollte ich, dass dies der perfekte Hund wird. Ich bin damals für mein heutiges Empfinden sehr hart mit meinem Hund umgegangen. Geblendet von den gängigen Rangordnungstheorien und geleitet von dem Gedanken, mein Hund müsse mich überallhin begleiten, habe ich überhaupt nicht erkannt, was für eine zarte, empfindsame Seele da an meiner Seite war. Viele Wünsche meines Hundes habe ich unterdrückt, weil sie nicht zu meiner Vorstellung passten. Ich habe sogar körperliche Maßregelungen wie den Schnauzgriff angewandt, und das bei einem Hund, dessen Welt schon zusammenbricht, wenn man ihn nur einmal mit einem tadelnden Blick ansieht. Etwas, das ich mir nie verzeihen werde.
Wie konnte ich nur so dumm und blind sein? In meinem egoistischen Bestreben, den perfekten Hund zu bekommen, habe ich gar nicht bemerkt, dass dieses liebevolle, zarte, harmoniesüchtige Wesen bereits von dem Moment seiner Geburt an absolut perfekt war.
Heute läuft es anders bei uns. Bevor ich meine Hunde auf einen Ausflug mitnehme, überlege ich mir, ob sie dabei auch Spaß haben, oder ob sie vielleicht glücklicher wären, wenn ich sie zu Hause lasse.
Ich gehe einzeln mit meinen sehr unterschiedlichen Hunden spazieren, weil sie beide zufriedener sind, wenn ich ganz auf ihre Bedürfnisse eingehen kann und sie nicht jeden Tag Kompromisse machen müssen. Das ist anstrengend für mich, aber es ist auch wunderschön, weil ich so die Möglichkeit habe, mich täglich intensiv mit den Hunden einzeln zu befassen, was bei einem gemeinsamen Spaziergang nicht machbar wäre.
Ich freue mich darüber, dass meine inzwischen alte Hündin ihre Meinung äußert und mir zeigt, auf welchem Spazierweg sie heute Gassi gehen möchte und wo nicht. Und mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wie glücklich sie ist, weil ich auf sie achte und ihren Wünschen folge. Das ist eine Erfahrung, die sie als junger Hund nie machen durfte.
Es geht mir nicht mehr darum, was ich gerne möchte, und vor allem geht es mir nicht mehr um das, was andere von mir und meinem Hund denken. Es geht mir nur noch um das Glück meiner Hunde, auch wenn das für mich manchmal anstrengend ist.
Das heißt natürlich nicht, dass meine Hunde tun und lassen dürfen, was sie wollen. Sobald sie sich selbst oder andere in Gefahr bringen könnten oder sich auch nur jemand von ihnen belästigt fühlen könnte, greife ich selbstverständlich ein und nehme sie an die Leine. Auch der zuverlässige Rückruf ist wichtig, um Gefahren abzuwenden. Aber ich stelle keine unnötig hohen Anforderungen mehr an meine Hunde. Sie müssen nichts tolerieren, was sie nicht wollen. Ich verlange zum Beispiel nicht von ihnen, dass sie still stehen und sich von einem Fremden streicheln lassen, nur weil ich das gerade möchte. Ich weiß, dass meine Hunde das beide nicht gern mögen, und dann haben sie auch absolut das Recht, es zu verweigern. Ich will schließlich auch nicht von jedem Fremden angefasst werden, also warum sollte ich von meinen Hunden etwas verlangen, was ich selbst noch nicht einmal tun würde.
Die Augen geöffnet hat mir im Grunde unsere Hündin Luzi, die einen sehr speziellen, anstrengenden, aufbrausenden Charakter hat und anfangs auch sehr unsicher war. Mit ihr war von Anfang an nichts von all dem, was ich mit meiner älteren Hündin gemacht habe, möglich. Kneipenbesuche, Einkaufsbummel, Begegnungen mit fremden Menschen – alles absolut unvorstellbar. Ich musste all meine Ansprüche auf null herunterschrauben.
Es ist erstaunlich, wie es den eigenen Blickwinkel verändert, wenn man mit einem Hund unterwegs ist, bei dem man schon froh ist, wenn er einen Passanten, der ihn im Vorbeigehen kurz angeschaut hat, nicht sofort angreift. Mir wurde erst im Alltag mit Luzi klar, wie viel ich von meinem anderen Hund verlangt hatte. Und dass es keinesfalls selbstverständlich ist, dass ein Hund in unserer verwirrenden, aufregenden modernen Welt zurechtkommt, ohne durchzudrehen.
Durch diese Veränderung meines Blickwinkels habe ich auch die Anforderungen an meinen anderen Hund zurückgedreht, ihm mehr Freiheiten gelassen und weniger von ihm verlangt. Ihn nicht mehr überallhin mitgenommen und ihm mehr Halt gegeben. Und siehe da, er wurde auf einmal viel fröhlicher, alberner, verspielter, und das bis ins hohe Alter. Es tat ihm gut, diese Last nicht mehr tragen zu müssen. Wäre mir das nur vorher schon aufgefallen, dann hätte ich ihm einiges erspart.
Wir müssen unsere egozentrische Weltsicht, die für uns Menschen so typisch ist, überdenken. Wir müssen anfangen, uns wirklich ehrlich zu fragen, ob wir nicht zu viel von unseren Hunden wollen. Ob sie nicht glücklicher wären, wenn wir ihnen einfach mehr Schutz und Geborgenheit bieten und nicht ständig das Unmögliche von ihnen fordern. Wir müssen uns in unsere Hunde hineinversetzen und die Welt aus ihrem Blickwinkel betrachten.
Und ist es wirklich notwendig, dass unser Hund uns überallhin begleitet? Ich denke, er wäre manchmal vielleicht doch zufriedener, wenn er zu Hause auf dem Sofa in aller Ruhe ein Schläfchen machen und darauf warten dürfte, dass seine Menschen vom Stadtfest, das sie ohne ihn besucht haben, zurückkehren.
Muss ein Hund es erdulden, dass sich eine ganze Kindergartengruppe schreiend um ihn schart und lauter klebrige, kleine Hände ihn anfassen? Auch wenn das für die Kinder sicherlich eine pädagogisch wertvolle Erfahrung ist – ich möchte in so einer gruseligen Situation nicht in der Haut dieses Hundes stecken.
Unsere Hunde haben nicht die Wahl. Sie sind unseren Entscheidungen ausgeliefert. Es liegt in unserer Verantwortung, sie vor Überforderung zu schützen und ihnen nicht zu viel zuzumuten.
(Inga Jung, März 2017)