Der Faktor Sonnenbrille

 

Sommer, Sonne, Sonnenschein – und schon laufen alle Hundeleute mit Sonnenbrille herum. Ist ja auch besser für die Augen und gegen Hautalterung usw. Und sieht natürlich auch total cool aus.

Seltsamerweise reagiert Rudi heute auf keine einzige Anweisung. Er wirkt planlos und unkonzentriert. Sonst ist Rudi eigentlich ein sehr verlässlicher Hund. Sein Mensch vermutet, dass das von der Hitze kommt. Vielleicht ein Sonnenstich?

Rudi indessen ist irritiert. Er ist es gewohnt, im Gesicht seines Menschen zu lesen, dessen Stimmung in seiner Mimik zu erkennen und aus jedem seiner Blicke Rückschlüsse auf das, was gleich kommen wird, zu ziehen. Heute aber ist da nichts zu sehen. Nur zwei dunkle Gläser starren ihn ausdruckslos an. Was ist bloß mit seinem Menschen los? Ob der wohl krank ist? Warum kommuniziert er nicht so wie sonst?

All das verunsichert Rudi und er weiß nicht so recht, was er tun soll. Er reagiert zögerlich auf die ihm eigentlich bekannten Signale, denn diese sind heute irgendwie anders als sonst. Es fehlen wichtige Elemente. Er ist angespannt.

Rudi und sein Mensch haben nun den Wald erreicht. Hier ist es schattig, und Rudis Mensch nimmt seine Sonnenbrille ab. Rudi ist überglücklich. Endlich kann er wieder erkennen, was sein Mensch ihm sagen möchte. Endlich ist wieder der für ihn so wichtige Blickkontakt möglich. Endlich ist die Welt wieder in Ordnung und er kann sich entspannen.

Ich glaube, die meisten Menschen kennen selbst dieses unangenehme Gefühl, wenn man sich mit einem anderen Menschen unterhält und dieser dabei eine so dunkle Sonnenbrille trägt, dass man seine Augen nicht erkennen kann. Es fühlt sich merkwürdig an. Irgendwie als ob der andere nicht ganz ehrlich sei, weil er seine Augen versteckt. Wer weiß, wo er die ganze Zeit hinschaut und ob er vielleicht gelangweilt mit den Augen rollt, während wir ihm unser Herz ausschütten.

Wenn wir mit jemandem sprechen, lesen wir gleichzeitig in seinem Gesicht. Wir sehen, ob die gesprochenen Worte mit der gezeigten Mimik zusammenpassen, ob das Gesamtbild stimmig ist. Ist es das nicht, dann wirken die Worte aufgesetzt, weil die Mimik etwas anderes widerspiegelt. Haben wir nicht die Möglichkeit, das ganze Gesicht zu sehen, dann irritiert uns das.

Dabei sind wir Menschen ja durchaus in der Lage, allein aus gesprochenen Worten einen Sinn zu erschließen und den Inhalt des Gesagten zu verstehen, auch ohne dass wir unseren Gesprächspartner direkt sehen. Wie viel schwerer muss es für unsere Hunde sein, die das nicht können, sondern einen Großteil ihrer Informationen in der Kommunikation mit uns aus unserer Mimik und Gestik ziehen, wenn wir unsere Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verstecken?

Sicherlich kann ein Hund lernen, allein auf ein gesprochenes Wort hin etwas Bestimmtes auszuführen. Da Hunde aber zunächst automatisch den kompletten Kontext mitlernen (also auch unsere Körperhaltung, unseren Blick sowie die gesamte Umgebung), muss man mit einem Hund gezielt üben, dass er wirklich nur auf das Wort reagiert und nicht noch mehr Signale braucht, um zu erkennen, was wir von ihm erwarten. Das kann er nicht von alleine.

Weiterhin besteht die Kommunikation mit Hunden nicht nur aus gelernten Signalen, sondern ein Hund und sein Mensch kommunizieren die gesamte Zeit. Zumindest kommuniziert der Hund mit seinem Menschen. Ob der Mensch das auch bemerkt und darauf eingeht oder sich typisch menschlich ignorant nur mit sich selbst beschäftigt oder Pokemons jagt, das ist natürlich eine andere Frage.

Ich möchte keinesfalls ein Sonnenbrillenverbot ausrufen. Im Gegenteil, Sonnenbrillen erfüllen wichtige Funktionen und sind ein oftmals notwendiger Schutz. Aber ich möchte Menschen dafür sensibilisieren, wie stark sich die Kommunikation mit ihrem Hund dadurch, dass ihre Augen nur noch seelenlose dunkle Gläser sind, verändert. Man darf sich einfach nicht wundern, wenn ein Hund auf einmal nicht mehr weiß, was „Sitz“ heißt, sobald sein Mensch eine Sonnenbrille trägt. Denn der komplett andere Gesichtsausdruck kann auch das gesamte Signal so verändern, dass der Hund es nicht mehr erkennt.

Um dem Hund gegenüber fair zu bleiben, wäre es vielleicht eine gute Idee, auf dem Spaziergang zumindest immer dann, wenn der Hund sich wirklich angesprochen fühlen soll, die Brille einmal kurz abzunehmen und dem Hund so die Deutung des Gesagten im mimischen Kontext zu erleichtern. Schließlich ist es für ihn ohnehin schon anstrengend genug, tagtäglich die Sprache einer anderen Art decodieren zu müssen, da sollten wir es ihm nicht noch zusätzlich erschweren.

(Inga Jung, Juli 2016)